11. 06. 2006   ...9 Uhr 45 begeben wir uns auf den Festplatz, laufen inmitten vieler Pilger die drei vorgeschriebenen Runden in Uhrzeigerrichtung um die halbaufgerichtete bunte Fahnenstange. Die Pilger beten und werfen „Windpferde“ (kleine farbige Papierstücke mit buddhistischen Heiligen Schriften darauf) in die Luft. Sie helfen bereits am Vortag, die Gebetsflaggen des letzten Jahres zu entfernen und neue anzubringen. Entlang der Seiten auf den Hängen der nahegelegenen Hügeln sitzen viele Leute, um das Spektakel zu beobachten, Es beginnt mit dem Einmarsch der festlich geschmückten rotgewandeten Mönche aus den umliegenden Klöstern, die sich oberhalb der Fahnenstange auf ihren Gebetsteppichen niederlassen, dicht umlagert von den Pilgern und den neugierig ungeniert fotografierenden europäischen, japanischen und amerikanischen Touristen.

Den Mönchen nähern sich ehrfurchtsvoll die Pilger, bringen dem Hauptlama kleine Gaben, Schals, Geld oder Getränke, bitten ihn, für ihre Zukunft zu beten und werden von ihm mit einer kleinen Vajraglocke am Kopf gesegnet. Andere Mönche musizieren mit langen Blasinstrumenten und Glöckchen. Ab und zu wehen kleinere Wirbelstürme die Tausenden Windpferde und viel Staub hoch in die Luft. Dann beginnt die Zeremonie der Aufrichtung der Tarbocher Fahnenstange. Sie wird zuerst mit Hilfe von langen A-förmigen Holz- und Eisenstangen und Seilen halb aufgerichtet. Ein orangebekleideter Lama gibt ständig Anweisungen mit einem Megaphon, was zu tun ist, wenn man stehenbleiben kann, und wann man weitergehen muss. Jeder kann helfen, die Seile zu ziehen und die Stangen aufzurichten, das ist der „nicht organisierte“ Teil der Zeremonie, es gibt immer reichlich Leute, die spontan mithelfen. Wenn es zu schwer wird mit den Stangen, wird eine Pause für eine halbe Stunde eingelegt. Der Lama legt eine lange Aluleiter an und klettert hinauf, oben knüpft er zwei Seile um den Fahnenmast.

Dann kommt der letzte Teil, der letzte Schritt, der zur perfekten aufrechten Position der Fahnenstange führen muss.Die zwei starken Seile werden an zwei Lastwagen befestigt, die Motoren sind warm gelaufen und dann auf das Zeichen des Lama fahren sie rückwärts, die Fahnenstange richtet sich auf. Um die Bewegung zu kontrollieren, stehen beidseitig Menschen, die ebenfalls an den Seilen ziehen, dass sie nicht auf die eine oder andere Seite fallen kann. Schließlich beginnen sich die Lastwagen zu bewegen, es geht alles sehr schnell, die Fahnenstange bewegt sich, die langen Stangen, die sie gestützt haben, fallen herab und nur Sekunden später ist alles vorbei. Jetzt beginnt der große Zauber, die Fahnenstange steht senkrecht gerade, Tausende von Windpferden fliegen in den Himmel ... wie eine Explosion von Gebeten, die in den Himmel gehen. Mir kommen die Tränen, ich kann wirklich fühlen, wie ein plötzlicher großer Moment des Glücks mich umgibt. Wie berauscht bleibe ich eine ganze Weile auf meinem Platz auf dem Hang hocken.

Im nächsten Moment beginnen die Menschen wieder mit der Umrundung der Fahne, dieses Mal, um sich zu versichern, ihre Arbeit gut gemacht zu haben und das alles wohlauf ist. Wir nehmen teil an ihrer Euphorie. Große Steine werden wieder kreisrund um die Fahnenstange aufgestapelt. Die große indische Pilgergruppe samt ihrem Guru macht lautstark mit ihren Gebeten und einer Tänzerin auf sich aufmerksam. Die tibetischen Mönchsgesandten werden in den Kreis der Inder eingelassen und setzen sich zu ihnen. Der Absperrkreis der eigentlich überflüssigen chinesischen Soldaten wird mit einem Fahnenappell aufgelöst und sie ziehen sich in das chinesische Lager zurück, aus dem bald aus zwei großen Lautsprechern eine freche laute chinesische Frauenstimme rote Propagandaparolen nonstop über den Platz mit den feiernden Indern schallen läßt, diese teilweise übertönend. Höchst beschämend, finde ich.

Oberhalb auf einem Hügel wurde auch ein kleiner Mast mit vielen Gebetsfahnen errichtet, ein Abbild des großen Bruders. Einige Stunden später ist der Platz wieder leer, außer den entfernt stehenden Zelten der Menschen, die die Nacht hier verbringen werden, sei es, um am nächsten Tag heimzukehren oder die Kailash Parikrama, die Heilige Kailash-Umrundung zu gehen. Viele Pilger starten heute nachmittag schon die Kora. Ich bin glücklich, dabei sein zu dürfen bei diesem einmaligen mächtigen Erlebnis.

Auf dem Rückweg zu unseren Zelten begegne ich auch der österreichischen Gruppe von Niru, es sind neun Touristen, die Führer sind Ganesh, der kleine immer strahlend freundliche Sere und unser Pasang, der Koch der junge Bijaja, der zweite Koch unser Purna vom Shivapuri-Trek, sofort bekomme ich heißen Orangensaft, zwei aufgeschnittene Orangenhälften und zwei Zimtrollen angeboten, Gastfreundschaft wird bei Niru groß geschrieben. Wir werden die Österreicher und ihre Begleiter in den nächsten Tagen bis nach Saga öfter sehen.

Es ist erst früher Nachmittag, wir bekommen eine leichte Suppe und haben anschließend einige freie Zeit, die wir mit einer Runde Kniffel verkürzen. Wir unternehmen am frühen Abend eine zweieinhalbstündige Wanderung über die Zeltplatzwiese Richtung Kailash, es gibt hier massig Erdhöhlen der großen Jack-Kaninchen, an zwei Stupas suchen wir einen Weg rechts hoch zu einer Höhle in den Felsen, von hier traversieren wir nach rechts unterhalb des hohen Felsenbandes bis zu einer Art Steinstupa, finden dort den Durchgang hoch auf den Platz der Himmelsbestattung. Iris findet oben eine Brieftasche mit ca. 600 Yuan, sagt unseren Führern darüber Bescheid. Da sich aber niemand meldet, spendet sie das Geld nach und nach für gemeinsame Ausgaben, z. B. die Abschiedsgetränke in Saga. Von unserer Matratzenaussicht beobachten wir, dass am Fahnenmast noch viele dicke Gebetskettenwürste am Boden liegen, von Helfern entwirrt und über dem Platz einzeln aufgespannt werden, eine Heidenarbeit, die noch mehrere Tage dauert. Aus dem Weihrauchkessel steigen immer noch dicke Rauchschwaden auf. Nachts beträgt die Temperatur hier 3 °C. Eine indische Frau ist letzte Nacht im Krankenhaus an Höhenkrankheit gestorben, andere Inder müssen deswegen umkehren.

 

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